Mittwoch, 27. Mai 2009

"Ernstlich Reden" - Die Klagepsalmen

"Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?" (Ps 22,2)

Diese Frage ist paradox, weil sie sich an Gott richtet. Der Beter beklagt die Abwesenheit Gottes, obwohl er sich genau an diesen angeblich Abwesenden wendet. Wie ist das zu erklären?
Christoph Markschies fasste in Worte, was viele schon längst gedacht hatten: Alle Klagepsalmen sind von einem Motiv des Vertrauens geprägt. Dieses Motiv sei das Grundmotiv der Psalmen schlechthin. Gerade in der Verlassenheitsklage drücke sich diesen Vertrauen aus.
- Im Prinzip hat Herr Markschies recht. Nur: Ich frage mich, ob die gefühlte Gottverlassenheit damit nicht klein geredet wird. Wäre es nicht vorstellbar, dass heutzutage ein Trauernder eine ähnliche Frage formuliert? Man kann manchmal in Todesanzeigen lesen: "XY, warum musstest du so früh von uns gehen?". Damit wird nicht mit einem Toten kommuniziert, sondern die Aussage hat den alleinigen Zweck, die Klage (das Gefühl der Trauer) zum Ausdruck zu bringen.
Ich glaube, wir müssen aufpassen, dass wir die Gefühle, die sich in den Psalmen ausdrücken nicht nivellieren. Die Psalmen sind literarisch gesehen wunderschön formuliert, aber dahinter vermute ich eben keine stilisierten, sondern echte Erfahrungen. Ebenso echt wie die gefühlte Gottverlassenheit, ist dann auch die plötzlich erfahrene Gottesnähe: "- Du hast mich erhört" (Ps22, 22).
Noch einmal: Natürlich sehe und bewundere ich die Psalmen auf literarischer Ebene, aber ich denke, dass sich hinter den Aussagen durchaus echte Erfahrungen und Gefühle verbergen. Luther meinte, dass gerade die schwierigen Erfahrungen des Lebens einem lehren "mit Ernst" zu reden:

Denn ein menschlich Herz ist wie ein Schiff auf dem wilden Meere, welches
die Sturmwinde von den vier Orten der Welt treiben ... Solche Sturmwinde aber
lehren mit Ernst reden und das Herz öffnen und den Grund herausschütten ... Was
aber ist das meiste im Psalter, denn solch ernstlich Reden in allerlei solchen
Sturmwinden? Wo findet man feinere Worte von Freuden, als die Lobpsalmen oder
Dankpsalmen haben?

M.Luther, Vorrede zum Psalter (1528), WA.DB
10,1,101f.


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