Sonntag, 19. April 2009

Zur Komplexität moderner Gottesdienste

In den USA lernte ich in der Willow Creek-Gemeinde zum ersten Mal moderne Gottesdienste kennen. Seit den 90er Jahren finden sich auch in Deutschland verstärkt Gottesdienste, die sich besonders an kirchenferne Menschen richten (das sog. "zweite Programm"). Leider habe ich hierzulande selten Gottesdienste erlebt, die in ihrer Attraktivität mit denen in den USA vergleichbar waren. Ich denke, dass die Gründe dafür in dem fehlenden Bewusstsein für die Komplexität moderner Gottesdienste liegen.

Wie kein anderes Gottesdienstformat erfordern moderne Gottesdienste einen extrem hohen Arbeitsaufwand. Deutlicher als anderswo muss im modernen Gottesdienst ein roter Faden klar erkennbar sein, da es sonst leicht zu einer Reizüberflutung kommen kann, bei der man den Gottesdienst zwar 90 Minuten lang aufmerksam verfolgt, aber letztlich nicht viel von dem Gesagten und Erlebten hängen bleibt.

Wer moderne Gottesdienste plant, unterschätzt oft, was die liturgischen Vorgaben für den traditionellen Gottesdienst leisten. Der Wochenspruch, das Motto des Gottesdienstes, der entsprechende Predigttext, die liturgischen Farben des Kirchenjahres, die sorgfältig ausgewählten Liedstrophen mit wiederkehrenden Motiven - all dies ist für Pfarrerinnen und Pfarrer (zumindest als Empfehlung) vorgegeben und eine ungemeine Arbeitserleichterung. Die liturgischen Elemente sorgen im Idealfall dafür, dass der Gottesdienstbesucher den Eindruck eines "abgerundeten" Gottesdienstes bekommt. Das Thema des Gottesdienstes zieht sich wie ein roter Faden durch sämtliche Elemente und erleichtert die Konzentration auf das Wesentliche.

In den traditionellen Gottesdiensten ist es die Liturgie, die sich für den roten Faden verbürgt. Der Verzicht auf multimediale Elemente, die Schlichtheit der Liturgie, das Fehlen überraschender Momente -- all das schützt vor Reizüberflutung. Das Problem der anderen Art ist hier: die Gefahr der Langeweile. Darum braucht es auch hier "frische" Elemente, die die Liturgie bereichern. Dies kann etwa durch die Kirchenmusik geschehen. Das Auftreten eines Chores, etc. Oder durch die wöchentliche Kinderpredigt, wie sie in den angelikanischen Kirchen üblich ist. Im Grunde wird aber der rote Faden bleiben.

Moderne Gottesdienste brauchen ebenso wie traditionelle Gottesdienste einen roten Faden mit wiederkehrenden Motiven, die sich um ein und dasselbe Thema kreisen. Verzichtet man auf eine Liturgie, braucht es eine sorgfältig erarbeitete Programmgestaltung ("programming"), deren Aufwand nicht zu unterschätzen ist. Gemeinden wie Willow Creek, die nun in Sachen moderner Gottesdienste ja wahrlich zu den "Profis" gehören, brauchen für die Gottesdienstplanung mehrere Wochen Vorlauf! Ich denke, dass sich ihr Fleiß auszahlt. Nicht jeder hat ein gutes Gespür für diese Aufgabe, darum ist es ratsam ein Programmteam einzusetzen, mit Leuten die speziell dafür begabt sind.

Moderne Gottesdienste können von der Liturgie lernen, den roten Faden im Auge zu behalten. Liturgische Gottesdienste hingegen können von modernen Gottesdiensten lernen, das Überraschende und Spontane zu entdecken, um ihren Gottesdienst zu bereichern.

2 Kommentare:

Achti hat gesagt…

Dank der Lektüre von Härles "Wachsen gegen den Trend" war ich einmal in Mainz in der Auferstehensgemeinde - Partner zu Jakobus in Tübingen.
Ich habe dort einen für die typischen Sonntagsgottesdienst erlebt, der versch. Elemente vereinte und in sich stimmig war, also hochkirhclich, freikirchlich,
katholisch, Taizé ...
Das war zwar kein "moderner" GD im Sinne von Willow Creek, aber durchaus zeitgemäß und für mich persönlich der schönste GD, den ich überhaupt jemals erlebt hab.
Da lohnt sich eine Exkursion.

Oliver hat gesagt…

@ Achti: Oh, toll! Das Buch hab ich auch gelesen. Fand es sehr inspirierend.
Wenn ich mal in Mainz sein sollte, werde ich die Chance nutzen.

Morgen geh ich in die Jakobusgemeinde. : ) Deiner Beschreibung nach hat der Gottesdienst ähnliche Elemente.

Was mich an Jakobus fasziniert ist nicht nur die Vielfalt in der Gottesdienstgestaltung, sondern die Vielfalt unter den Gottesdienstbesuchern. Da nehmen Konservative neben Liberalen das Abendmahl, alte Leute neben jungen Leuten, Schwaben neben Halb-Ostfriesen... Und alle werden sie satt.